Das Tagebuch

3.7.23
Zur Theorie und Praxis der ‚Marseillaise‘
Es flogen wieder Pflastersteine und es splitterten die Scheiben,
es brannten wieder dicke Schlitten und es zitterten die Reichen,
es glotzten die Bürger wie immer dämlich von ihren Balkonen ...
da war es aus und vorbei mit Bürgers Ruh,
Die Bullen schlugen wieder zu.

[Dazu spielt das Französische Staatsorchester die französische Nationalhymne – hier halt nur eben auf deutsch.]

„Auf, Kinder des Vaterlandes,
Der Tag des Ruhmes ist gekommen!
Gegen uns ist der Tyrannei
Blutiges Banner erhoben.
Blutiges Banner erhoben.
Hört ihr auf den Feldern
Diese wilden Soldaten brüllen?
Sie kommen bis in eure Arme,
Um euren Söhnen, euren Gefährtinnen
die Kehlen durchzuschneiden.

Zu den Waffen, Bürger,
Formiert eure Truppen,
Marschieren wir, marschieren wir!
Unreines Blut
Tränke unsere Furchen!

[ *) ]

Zittert,
Tyrannen und ihr Niederträchtigen,
Schande aller Parteien,
Zittert!
Eure verruchten Pläne
Werden euch endlich heimgezahlt!
Werden euch endlich heimgezahlt!
Jeder ist Soldat, um euch zu bekämpfen,
Wenn sie fallen, unsere jungen Helden,
Zeugt die Erde neue,
Die bereit sind, gegen euch zu kämpfen.

Zu den Waffen, Bürger …

Wir werden des Lebens Weg weiter beschreiten,
Wenn die Älteren nicht mehr da sein werden,
Wir werden dort ihren Staub
Und ihrer Tugenden Spur finden.
Und ihrer Tugenden Spur finden.
Eher ihren Sarg teilen
Als sie überleben wollend,
Werden wir mit erhabenem Stolz
Sie rächen oder ihnen folgen.

Zu den Waffen, Bürger,
Formiert eure Truppen,
Marschieren wir, marschieren wir!
Unreines Blut
Tränke unsere Furchen!“

Na, was sagen wir denn dazu?
Ouuuuuh! Ja. Jedenfalls nicht so langweilig wie „Brüh im Glahanze“.
Andererseits, 'n bisken viel Patttttthossss, vielleicht. Für meinen Geschmack, oder? Egal.
Gut. Abgesehen davon und davon, dass das Ding über 200 Jahre alt ist, sich seitdem so manches verändert hat, und obwohl die Menge der enttäuschten Hoffnungen wahrlich die der glück­lichen Momente bei weitem überwiegt, und überhaupt davon abgesehen, dass man in zugespitzten Situationen, in Zeiten der Revolte wie diesen, sich nicht immer so gezielt das Nötigste zum Lebensunterhalt zu­sam­menplündern kann und - so gesehen - man schon mal das Falsche erwischt, dass auch schon mal die falsche Hütte, das falsche Auto oder das falsche Pferd Feuer fängt und dass die perma­nente Revo­lution auch mal 'ne Pause bräuchte und dass die Religiö­sen aller Schattierungen, die privat ganz legal glauben und praktizieren dürfen, was, warum und wie sie wollen, trotzdem die ganze Gesell­schaft mit Gewalt ins Mittelalter zurückkatapultieren wollen, und dass die Religionsfreiheit für die überwältigende Mehrheit in erster Linie einfach nur Abstinenz bzw. natürliches Desinteresse an außerirdi­schem Budenzau­ber bedeutet,
also, abgesehen von dem und dem und alledem hat man in Frank­reich zusätzlich das Problem, dass die Mitglieder der jeweils herr­schenden Klasse seit über 200 Jahren immer genau dasselbe Lied vom Untergang anstimmen wie die von ihnen Ausgegrenzten, Unter­drückten und Beleidigten.
Da kann doch irgendwas nicht stimmen!
Fakt ist jedenfalls: Ohne unsre lieben Freunde der Aufklärung, ohne die Froschfresser aus dem Westen, hüppten wir hier doch alle noch immer auf den Bäumen rum. Aber für die Allemannen und ihre sa­genhafte Presse ist Frankreich nur das Land der ewigen Krawalle. Wäre ich Fran­zose, würde ich mir von einem Deutschen aus Erfah­rung schon mal gar nix sagen lassen. Nicht mal von mir.

*) Die Hymne hat noch n paar Strophen mehr, doch das wär wohl für uns etwas zu viel des Guten gewesen. Zumal die Lektüre für Jugend liche unter 16 Jahren auch nicht geeignet ist.
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