Das Tagebuch

21.11.24
Nachschlag zum Aufruhr über den ‚Tatort‘ vom Sonntag
Aus der Reihe
„Wie man, auch wenn man nicht die geringste Ahnung vom Sujet hat, das allgemein verbriefte, seinerzeit hart erkämpfte Recht auf Kunst­freiheit simpel missbrauchen u. missverstehen will als Aufforderung, seine persönliche, unmaßgebliche Meinung ohne stichhaltige Argu­mente, aber selbstbewusst und mit viel aufgeblasenem Tamtam an jede große Glocke zu hängen und umzumünzen in ein Menschen­recht auf un­fassbaren Quatsch, das es gar nicht gibt.“
Moment, können wir uns vielleicht mal verständlich ausdrücken?
Okay. Pardon, dann mit etwas anderen Worten:
Am Beispiel des kleinkarierten Dorfprotestes gegen die Stuttgarter ‚Tatort‘-Folge, der sich inzwi­schen pestartig zum bundesweiten kleinkarierten Dorfprotest ausgewachsen hat, soll dieser durchaus moderne Wahn, alles, was einem nicht in den Kram passt, mittels Verbot und Zensur aus der Welt zu schaffen, hier pars pro toto kurz nachgezeichnet werden, indem der Protagonist des Widerstands noch mal original zu Wort kommt. Auch sollte man die Bedeutung von solchen Zwergenaufständen in der heutigen Zeit nicht un­ter­schätzen. (Oh, pardon! Ich weiß gar nicht, ob man das Wort ‚Zwerg‘ eigentlich noch benutzen darf.) Im 'Tatort' hieß das Kaff übrigens nicht Münsingen sondern irgendwie anders:

................„Die unverschämte Dorfverunglimpfung“................
................................Ein Drama in 4 Akten.................................
.........................über eine typische unverschämte ..................
.......................Dorfverunglimpfung in heutiger Zeit................
1. Akt
Auftritt Jochen Schuster. Der Vereinsvorsitzende vom Tennis­club Münsingen, der die Laien-Darsteller für den Spielfilm zusammen­getrommelt und den Protestbrief an die ARD und die Produktions­leitung gesch­rieben hatte, dekla­miert in aufgebrachtem Tonfall:
„Wir sitzen hier nicht Bier saufend unterm Hirschgeweih.“
2. Akt:
„Der Film ist ein Affront gegenüber den Menschen im ländlichen Raum und insbesondere auf der Schwäbischen Alb. Es gibt durchaus eine Dorfgemeinschaft, diese ist aber sozial konstruk­tiv und nicht feindselig.“
3. Akt:
„Es wird ein Dorfleben skizziert, das es seit den 1950er-Jahren nicht mehr gibt. Ein öffentlich-rechtlicher Sender darf (!) kein Bild präsen­tieren, das nicht mehr zeitgemäß ist.“
4. Akt:
Das Publikum beginnt wie abgesprochen einstudiert zu mosern, meckern und zu stänkern. Eine Hundertschaft Polente verschafft sich gewaltsam Einlaß und prügelt sich durch bis auf die Bühne. Im Saal nur noch absolutes Tohuwabohu, das Publikum schreit alles nieder, Stühle gehen zu Bruch, Fensterscheiben klirren, Tränengas wabert durch die Luft, es riecht nach Pefferspray, Leuchtraketen und China­böller tun ihr übriges, deutlich sind Hassgesänge und kollektive Ver­nichtungs­wünsche zu hören gegen Produzent, Regisseur und den Spielfilm, den Schuster und seine Laiendarsteller ganz ein­fach mit einem Dokumentar­film ver­wechselt haben, es aber nicht glauben wollen. Als wieder halbwegs Ruhe eingekehrt ist, Verteilung der Stimmzettel mit anschließender ‚demokratischer‘ Abstimmung. Ergebnis:
Der Film soll ab sofort im Namen des Volkes verboten werden.
Die ARD nimmt den ‚Tatort‘ aus dem Pro­gramm. Alle ande­ren Anstalten ziehen nach. Ebenso die Bücher­branche und fast alle politischen Parteien, die Schwarzen, die Roten, die Grünen und
(die Gelben gibt's nicht mehr) die Gestreiften und Kleinkarierten,
die Bayern, Sachsen und die Sonstigen, sämtliche Jugendorgani­sationen, die Kirchen, Sekten und die Musel­manis, die Flugzeug-, Spielzeug- und Kultur­industrie, die Auto-, Kohle-, Gas-, Atom- und die Atommüll­indus­trie, alle ziehen nach. Im Steinhuder­meer taucht ein Riesen­oktopus auf und der nächste Kanzler wird ein Zwerg.
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